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Bewertungsmodus

Bewertungsmodus

Warum unser Gehirn uns zum Urteilen zwingt und wie wir es überwinden können

In Millisekunden bewerten wir Menschen und Situationen – eine Fähigkeit, die tief in unserem Gehirn verankert ist. Dieser automatische Bewertungsmodus war evolutionär gesehen entscheidend für unser Überleben. Doch in der heutigen Zeit, insbesondere im Berufsleben, kann diese schnelle Bewertung zu Missverständnissen, Konflikten und unnötigem Ärger führen. Dabei könnten wir einiges lernen, beispielsweise von den Amerikanern, die oft den Ausdruck „Don’t judge“ verwenden, was so viel bedeutet wie „Bewerte nicht, urteile nicht.“

Warum wir nicht anders können, als zu bewerten

Unsere evolutionäre Vergangenheit hat uns gelehrt, blitzschnell Entscheidungen zu treffen. In früheren Zeiten war dies überlebenswichtig – wenn ein Säbelzahntiger vor einem stand, musste man sofort erkennen, ob Flucht oder Verteidigung die richtige Reaktion war. Heute sind solche existenziellen Bedrohungen selten, dennoch bleibt unser Gehirn in diesem „Bewertungsmodus“ verhaftet. Neuere Studien zeigen, dass unser Gehirn in Bruchteilen von Sekunden entscheidet, ob ein Gesicht vertrauenswürdig ist oder nicht – sogar bevor wir das gesamte Gesicht bewusst wahrgenommen haben.

Das Dilemma des schnellen Urteilens

Das Problem ist, dass wir in den meisten modernen Situationen, vorwiegend im Job, nicht mehr von solchen schnellen Urteilen abhängig sind. Dennoch neigen wir dazu, Kollegen oder Vorgesetzte rasch zu beurteilen – oft härter, als es angemessen ist. Diese schnellen Urteile führen nicht nur zu belasteten Arbeitsbeziehungen, sondern können auch zu einem Gefühl der moralischen Überlegenheit führen. Wir verurteilen andere und erheben uns gleichzeitig selbst, was oft in der Haltung „Ich bin mehr wert als du“ gipfelt.

Die Gefahr des ständigen Urteilens

Solches Verhalten schadet jedoch nicht nur den anderen, sondern letztlich auch uns selbst. Studien zeigen, dass das ständige Urteilen – besonders wenn es zur Gewohnheit wird – unser Gehirn darauf trainiert, das Negative auch in uns selbst zu finden. Dies kann zu erhöhtem Stress und sogar zu gesundheitlichen Problemen führen. Eine Studie der Sapienza Universität in Rom fand heraus, dass eine urteilende Haltung gegenüber den eigenen Gedanken und Gefühlen der stärkste Prädiktor für Depressionen und Ängste ist. Eine falsch verstandene Achtsamkeit, die in einer negativen Selbsteinschätzung mündet, kann also „nach hinten losgehen“.

Den Autopiloten ausschalten: ein Weg zu mehr Achtsamkeit

Was können wir also tun, um diesen automatischen Bewertungsmodus auszuschalten? Der Schlüssel liegt in der Achtsamkeit und der bewussten Reflexion. Anstatt sofort zu urteilen, sollten wir innehalten und die Situation, sowie unsere eigenen Reaktionen hinterfragen.

Hier sind einige Tipps, um das automatische Bewerten und Verurteilen zu reduzieren:

  1. Autopiloten ausschalten: Nimm dir einen Moment Zeit, atme ruhig und gleichmäßig in den Bauch. Diese kleine Pause schafft Abstand und verhindert impulsive Reaktionen.
  2. Empathie zeigen: Versetze dich in die Lage der anderen Person. Welche Herausforderungen hat sie gerade? Kennst du genug Details, um ein faires Urteil zu fällen? Wie würde sie sich fühlen, wenn sie dein Urteil wüsste?
  3. Missverständnisse hinterfragen: Überlege, ob du die Person möglicherweise missverstanden hast. Gibt es alternative Erklärungen für ihr Verhalten?
  4. Eigene Trigger erkennen: Was hat deine scharfe Bewertung ausgelöst? Fühltest du dich verletzt oder angegriffen? Durch das Erkennen deiner Trigger kannst du viel über dich selbst lernen.
  5. Gefühle hinterfragen: Welche Emotionen haben dein Urteil beeinflusst? War es Wut, Verletzung oder vielleicht sogar Neid?
  6. Kritik reflektieren: Wenn du kritisiert wurdest, versuche objektiv zu beurteilen, ob dein Verhalten wirklich deinen inneren Werten entspricht.

Mehr Achtsamkeit, weniger Urteile

Am Ende ist die wichtigste Frage: Bewertest du gerade eine Situation, oder fällst du ein moralisches Urteil über einen anderen Menschen? Letzteres ist selten unsere Aufgabe. Im englischsprachigen Raum wird dies oft mit der Frage „Who are you to judge?“ auf den Punkt gebracht – eine Mahnung, sich nicht zu überschätzen und sich in Achtsamkeit und Mitgefühl zu üben.

Indem wir den Autopiloten des schnellen Urteilens ausschalten und achtsamer mit unseren Gedanken und Reaktionen umgehen, können wir nicht nur unsere Beziehungen verbessern, sondern auch unser eigenes Wohlbefinden steigern.